(Auszüge aus einem Vortrag vor der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland. Thema des Referats war die Bedeutung von Kirchenbauten als »Heilige Räume«. In diesem größeren Zusammenhang standen die folgenden Beobachtungen über den »Selbstverlust« der Kirche, den Verlust an Spiritualität, geistlichem Leben, Identität, den Verlust der Anbetung und die Notwendigkeit ihrer Wiederentdeckung. Das Referat im vollen Wortlaut gibt es als PDF-Datei am Ende dieses Artikels.)

»... Ich plädiere nicht für eine Flucht in die Innerlichkeit, nicht für die Flucht vor der Verantwortung in die Unbeflecktheit. Aber die Gefahr ist, dass wir in der Heutigkeit ersticken; dass wir sagen, was die anderen sagen und denken. Die Gefahr ist, dass die Kirche ihre Fremdheit und ihre gegenwartskritische Kraft verliert. Die Gefahr ist, dass die Kirche sich selbst geläufig wird und dass sie die blinde Geläufigkeit einer Gesellschaft nicht unterbricht.


Ich komme nicht darum herum, die Kirche als Volkskirche zu begreifen, und zugleich sind wir verpflichtet, von der Bibel her zu bestimmen, was Kirche ist und was sie soll. Das ist der Widerspruch und das ist die Schwierigkeit unseres Unternehmens. Die Kirche kann, wenn sie Kirche bleiben will, ihre Gründungsidee nicht verraten. Hoffentlich scheint sie wenigstens noch blass durch das, was wir denken, was wir tun, wie wir mit unseren Konflikten umgehen, was wir zu unseren vorrangigen Optionen und Arbeiten machen. Die Kirche kann nicht ihr eigenes gegenwärtiges Sosein zum Maßstab ihrer Existenz machen; sie kann nicht den Geist der Zeit und der Zivilgesellschaft zum Maßstab ihrer Arbeit machen. Sie ist alten Ideen verpflichtet, sie ist unzeitgemäß, sie hat Dokumente und Urkunden, die nicht alles befehlen, alles erlauben und mit allem einverstanden sind.

Der Raum baut an meiner Seele. Die Äußerlichkeit baut an meiner Innerlichkeit. Das ist die Erkenntnis eines älter gewordenen Glaubens. Jeder junge Glaube zweifelt mit prophetischer Geste an diesem Satz. Jeder Anfang und jede Bekehrung erzeugt einen antiritualistischen Impuls. Alle Anfänge stürmen die alten Bilder, Einrichtungen und Inszenierungen. Alle Anfänge sind bilderstürmerisch, und in ihnen sagt man jenen Satz des jungen Mannes aus Nazareth: Nicht was zum Munde hineingeht verunreinigt den Menschen, sondern was aus dem Munde herauskommt macht den Menschen unrein (Mt. 15,11). Nicht die Äußerlichkeiten entscheiden über den Menschen, sondern sein Herz. Und so fegt der junge Glaube im Sturm der Bilder alle Aufbauten hinweg. Er sagt: »Gott, der die Welt gemacht hat und alles, was darin ist, er, der Herr des Himmels und der Erde, wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind« (Apg. 17,24). Die Welt ist sein, sagt dieser junge Glaube. Eine besondere Stätte, eine besondere Zeit oder ein besonderes Haus ihm zuzusprechen, bedeutet die Leugnung seiner Universalität und der Heiligkeit aller Zeiten und Orte. Alles ist unmittelbar zu Gott, und er ist nicht einzuschränken auf die heiligen Besonderheiten. Das Allgemeine ist heilig, und wir brauchen keine aus dem Allgemeinen herausgeschnittenen heiligen Zeiten, Personen, Räume, Gesten und Instrumente.

Die heiligen Räume haben heute ihr Problem mit uns. Wir lieben die Fremde nicht! In narzisstischen Lagen versuchen Menschen, alles sich selber gleich zu machen und sich alles anzueignen. Sie wollen sich dauernd selber vorkommen, sie wollen die Wärme und die Unmittelbarkeit einer sich selbst feiernden Gruppe. Und so soll es auch im Gottesdienst und in der Kirche gemütlich sein wie zuhause im Wohnzimmer. Je individueller und je formloser die einzelnen und die Gruppen vorkommen, um so authentischer scheint der Gottesdienst zu sein. Die Selbstfeier der Gemeinde wird zur Gottesdienstabsicht. Dieser Selbstfeier werden die Texte, die Formen und manchmal auch die Räume unterworfen. Die Gemeinde will unmittelbar zu sich selber sein, und so verliert der Gottesdienst seine Fremdheit, seine Andersheit. Das Verhalten der Menschen wird ununterscheidbar vom Verhalten zuhause, im Wirtshaus oder auf einer Party. Die Sakralität der Handlung und des Raumes wird nicht aufgehoben, wie oben beschrieben, durch das prophetische Wissen um die Heiligkeit aller Orte, sie wird zerstört durch die Banalität narzisstischer Allgegenwart.

Wozu brauche ich eine Kirche? Der heilige Raum ist der fremde Raum, nur in der Fremde kann ich mich erkennen. Der Raum erbaut mich, insofern er anders ist als die Räume, in denen ich wohne, arbeite und esse. Ich kann mich nicht erkennen; ich kann mir selbst nicht gegenübertreten, wenn ich nur in Räumen und Atmosphären lebe, die durch mich selbst geprägt sind, die mir allzu sehr gleichen und die mich wiederholen. Die Räume, die mich spiegeln - das Wohnzimmer, das Arbeitszimmer - gleichen mir zu sehr. Der fremde Raum ruft mir zu: Halt! Unterbrich dich! Befreie dich von deinen Wiederholungen. Er bietet mir eine Andersheit, die mich heilt, gerade weil sie mich nicht wiederholt, sondern mich von mir wegführt. Kirchen heilen, insofern sie nicht sind wie wir selber. Ich war vor kurzem in einer modernen Kirche, die mich etwa so sehr berührte wie der Seminarraum, in dem ich meine Veranstaltungen abhalte. Er war arenaartig angelegt, auf jeder Stufe fanden sich ausreichend Sitzkissen für die Bequemlichkeit der Besucher. Der Altar war als solcher nicht zu erkennen. Man konnte ihn als kleinen Tisch oder als Lesepult betrachten. Der Raum war hell und bis zum Gähnen geheimnislos. Er enthielt einige geschmackvolle Plakate. Er wies in nichts über sich selbst hinaus. Es war ein erwartbarer Raum. Er hat mich nicht gebildet, weil er mir nicht entgegentrat, weil er mir nicht Einhalt gebot. Er hat mich nicht still gemacht, und es wäre unnatürlich gewesen, in diesem Raum mit meinem Nachbarn nicht zu plaudern. Es war ein Parlatorium, in dem es natürlich war zu parlieren und der einen Parliergottesdienst mit einer Parlierpredigt arrangierte. Ich vermute, dass die Fremdheit eines Raumes vor allem durch seine Langsamkeit hergestellt wird. Eine Kirche wird also gerade nicht ein Exzitations- und Erlebnisraum sein, sondern ein karger Raum, ein präziser Raum; ein Raum, der mit geringen Mitteln arbeitet, ein Raum der Disziplin, ein Raum, der sich wehrt gegen die Superlative, von denen wir täglich umgeben sind.

Eine Kirche ist ein Raum des Hörens. Über weite Strecken im Gottesdienst hören wir zu. Wir hören die Orgel, wir hören die Geschichten, wir hören die Predigt. Ein guter Raum verhilft zu einer anderen Weise des Hörens, als wir es aus einem Vortragssaal gewohnt sind. Das Hören ist meditativer. Man will nichts von den Bildern, Texten und Musiken, die man hört. Man will kommen lassen, was kommen will. Man ist Gastgeber der Bilder und der Texte. Man will sie nicht besitzen, nicht erjagen. Man will die Gebete und das Glaubensbekenntnis nicht füllen mit der eigenen Existentialität. Man lässt sich von ihnen in den Glauben von vielen ziehen. Sich nicht wehren und nichts beabsichtigen ist die hohe Kunst eines meditativen Verhaltens. Diese Haltung aber hat es in der Welt der Macher nicht leicht. Die macherischen Fähigkeiten sind in unserem Kulturkreis ins Immense gewachsen, und die pathischen Begabungen verkümmern. Wir fühlen uns allein als Macher gerechtfertigt, und unser Selbstverständnis bricht zusammen, wo wir als Macher an unsere Grenzen stoßen. Kann man in einer solchen Kultur auf etwas anderes hoffen als auf die eigene Stärke? Kann man sich hergeben? Kann man sich entlassen in das große Geheimnis der Welt? Wo wir auf diese imperiale Weise mit uns selber, mit der Natur, mit den Tieren umgehen, da verlieren wir unsere passiven Stärken: die Geduld, die Langsamkeit, die Stillefähigkeit, die Aufnahmefähigkeit, das Hören, das Warten, das Lassen, die Gelassenheit, die Ehrfurcht und die Demut. Wir verlieren die Kunst der Endlichkeit und der Bedürftigkeit.

Bei einem Urlaub kamen wir in Holland in eine strenge und kahle kalvinistische Kirche. Unsere damals dreijährige Tochter sah sich um und stellte kategorisch fest: Is’ kein Gott drin! Ich möchte die katholische und die protestantische Begabung würdigen; die katholische Vorliebe für die Augenschönheiten und die protestantische für die Ohrenschönheiten und für die Skepsis gegen die Augenschönheiten.

Es gibt viele Fälle der voreiligen Selbstverbergung in unserer Kirche, nicht nur in ihren Gebäuden, auch in ihrer Rede, im Konfirmandenunterricht, im Religionsunterricht und an anderen Stellen ihrer öffentlichen Rede. Vielleicht ist uns der Stolz abhanden gekommen, und die Gewissheit, dass wir Lebensschätze zu verwalten haben. Wenn man sich nicht zeigt, weiß man nicht, wer man ist.

Die Gastlichkeit der Kirche besteht darin, dass sie deutlich sie selber ist; nicht darin, dass sie sich verundeutlicht und versucht, wie alles andere zu sein. Je deutlicher eine Kirche ist, innerlich und äußerlich, um so mehr kann sie undeutliche Gäste ertragen. Was, wenn keiner mehr die fremde Sprache der Hoffnung hütet und verleiht! Was, wenn keiner mehr die Gebete kennt, die Poesie unserer Wünsche? Was, wenn nichts mehr die Alltäglichkeit und die Gewöhnlichkeit unterbricht? Was, wenn unsere Städte in der Sagbarkeit
ersticken; wenn nie und an keiner Stelle mehr an den Namen Gottes erinnert wird? Was, wenn Menschen ihre Lebenshoffnungen nicht mehr an alte Geschichten knüpfen können und die Visionen der Toten keine Stelle mehr haben? Damit aber die Kirche zur Verfügung stehen kann, muss sie deutlich und sichtbar sein, deutlich innen und deutlich nach außen. Mir sind alle Konzepte von Niederschwelligkeit in der Sprache, in den Gesten, in den Bauten verdächtig. Die säkulare Gegenwart braucht nicht die Anpassung der Kirchen, sondern ihre Fremdheit, ihre Besonderheit und ihre Klarheit. Die eigene Kenntlichkeit ist die Kirche einer unkenntlichen Gesellschaft schuldig. Kenntlich kann die Gesellschaft nur werden, wenn sie auf Kenntlichkeiten stößt. Kenntlich können junge Menschen nur werden, wenn sie auf erkennbare Menschen und auf kenntliche Institutionen stoßen. »In die Welt gehen, heißt wie die Welt werden« hat Werner Simpfendörfer vor 40 Jahren in seinen Thesen zum Kirchenbau gesagt und damit die Profanität der Räume eingeklagt. (in: Bahr, S. 106) Er hatte damals recht gegen die klerikale Abgeschlossenheit und gegen die Uninteressiertheit der Kirchen an der Welt. Aber wir leben in anderen Lagen. Menschen ersticken nicht mehr an Überdeutlichkeiten, sie hungern nach Erkennbarkeit und nach Gesichtern.

Eine öffentliche Kirche ist eine geöffnete Kirche, zunächst im Sinne des Wortes. Wenn es wahr ist, dass der Raum unsere Gebete und unsere Ruhe arrangiert, dann muss er auch zugänglich sein. Eine öffentliche Kirche ist eine sich selber erklärende und zeigende Kirche. Ich denke hier vor allem dankbar an die neuen Konzepte und Praktiken der Kirchenpädagogik. Es ist ein Stück Mission. Christen erklären anderen, welche Schätze sie haben und was sie lieben. Mission heißt, zeigen, was man liebt. Was man liebt, das zeigt man, und man hält es nicht in einem geheimen Winkel.

Einen besonderen Wunsch setze ich an das Ende meiner Überlegungen: Ich wünsche, dass unsere Kirchen Räume des Schweigens sind; ich wünsche dass unsere Kirche ein Raum des Schweigens ist. Wir haben das Schweigen verlernt. Wir haben es verlernt in unseren Gottesdiensten, in unseren Versammlungen und in unseren Räumen. Natürlich bin ich nicht gegen die Rede oder gegen das Wort. Aber ich bin gegen die Rede ohne das Schweigen. Schweigen heißt nicht nur still sein und nicht reden. Das Schweigen hilft dem Wort wahrhaftig zu werden. Das Schweigen wird gestört durch den Explikationszwang. Es ist der Zwang, alles zu erklären, was in unseren Gottesdiensten geschieht. Die Formen und Gesten verlieren ihre Kontur und ihre Klarheit, wenn sie durch ständige Rede eingeseift werden. Das Schweigen wird gestört durch Additionszwänge. Wir sind freier geworden in der liturgischen Gestaltung unserer Gottesdienste. Das ist gut so, alles soll möglich sein, aber nichts soll zufällig und beliebig sein. Die Häufung darf nicht liturgisches Prinzip werden.

Unsere religiöse Phantasie kann auch an der Ausführlichkeit ersticken. Kargheit, Langsamkeit und Leere regen die meditative Phantasie an. Häufung trocknet sie aus. Die Häufung von Gesten, Worten oder Formen verhindert ihre Verdichtung. Geplapper und Intensität schließen sich aus. Eine Kirche sollte auch ein »leerer Raum« sein - ich verwende einen Begriff aus der Theaterarbeit von Peter Brook. Ein Gottesdienst sollte eine karger Raum
sein. Erst dieser macht die Sprache möglich. Man kann einwenden: ist das anzustreben, wenn eine ganze Kultur zu einer Plapperkultur geworden ist? Man denke nur an den so oft geistlosen Umgang mit der Sprache in den Telemedien. Wem ist der »leere Raum« noch zuzumuten, wenn alle doch sonst in übervollen Exzitationsräumen leben? Wir müssen aber bedenken, dass unsere Kirchen nicht nur kulturelle Räume sind. Sie sind auch antikulturelle Räume. Sie sind auch Gegenräume gegen eine Kultur maßloser Banalität.

Kirchen sind auch Orte der Anbetung. Anbetung hat als höchsten Ausdruck das Schweigen.

Gott ist gegenwärtig, lasset uns anbeten
und in Ehrfurcht vor ihn treten.
Gott ist in der Mitte, alles in uns schweige
Und sich innigst vor ihm beuge. (G. Tersteegen)

Anbetung ist ein Fremdwort geworden in unserer Theologie und in unserer Frömmigkeitspraxis. Ich vermute, dass die Skrupellosigkeit, mit der wir mit der außermenschlichen Natur umgehen - mit dem Wasser, der Atemluft unserer Kinder und Enkel, mit den Bäumen und mit den Tieren - etwas zu tun hat mit dem Verlust des Wortes Anbetung und mit der Sache, die damit gemeint ist. Je mehr wir Gott verlieren, um so mehr werden wir uns selber Objekte der Anbetung. Sind unsere Kirchen Räume der Anbetung? Atmen unsere Gottesdienste den Geist der Anbetung? Anbetung soll kein Kastrationsbegriff werden, durch den alles andere in der Kirche verboten oder gedämpft wird. Ich will, dass unsere Kirchenräume Räume der Freiheit, der Revolte, des Witzes, der Schönheit werden, aber eben auch Räume der Anbetung.

Die Kirche ist der Ort der verfemten Begriffe und der ausgestoßenen Wörter: Gerechtigkeit, Mitleid, Barmherzigkeit, Trost, Schutz des verfolgten Lebens, Sturz der Tyrannen. Und endlich ist die Kirche der Ort, an dem der Name Gottes genannt wird. Wohin sonst sollen wir gehen, wenn wir sie verlassen?

 

Autor: Fulbert Steffensky

Jahr: 2003

Update: 06.04.2006

weitere Infos: http://www.worshipworld.de/Steffensky.pdf

   
© G. Baltes / T. Schröder

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